32. Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur in Japan
オーストリア現代文学ゼミナール
28. Oktober 2023
Sophia Universität, Tokio
Mit Milena Michiko Flašar
Clemens J. Setz – Am Nullpunkt des Menschseins

Mit Clemens J. Setz ist im fünfundzwanzigsten Jubiläumsjahr eine der außergewöhnlichsten Stimmen der österreichischen Gegenwartsliteratur zu Gast in Nozawa Onsen. Setz wurde 1982 in Graz geboren. Er studierte Mathematik und Germanistik, entschied sich gegen den Lehrberuf und wurde Schriftsteller. Neben Gedichten und Essays (u. a. für Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und Die Welt) schreibt er vor allem Erzählungen und Romane, deren spätkapitalistische Befindlichkeitsfiguren sich im Zustand psychischer und physischer Desorientierung durch die unheimliche Gegenwart einer technisierten Informationsgesellschaft bewegen. Ob postmoderne Apathie, Comics und Computerkultur, Internetkommunikation, Transhumanismus, Neurowissenschaften oder die großen Themen der Literatur wie Adoleszenz, Familie, Liebe und Tod – virtuos bespielt Setz den gesamten seismographischen Apparat zeitgenössischen Erzählens, um das Hier und Jetzt der westlichen Welt zu erfassen. Die offensichtliche Pathologie
(Krankheit, Paranoia, Perversion) seiner sonderlichen Protagonisten ist dabei weniger eine moralisch-diskursive Verarbeitung der Abgründigkeit des Alltags als vielmehr Ausdruck einer literarischen Versuchsanordnung, die das Individuum mit den radikalen Wirklichkeits- und Möglichkeitsdimensionen der menschlichen Existenz konfrontiert – bis hin zur Auflösung in den Binärcode. Diesem Experiment sieht sich auch der Leser ausgesetzt, indem ihm die Geborgenheit konventioneller Erzählweisen im verschachtelten Spiel mit Facta und Ficta entzogen wird, und er sich zugleich als Komplize des Dargestellten reflektiert.

Bereits in seinem viel beachteten Debütroman Söhne und Planeten (2007) gelingt es Setz auf genuine Weise, eine Vater- Sohn-Geschichte („Väterkinetik“, Frankfurter Allgemeine Zeitung) als tragikomische Gravitationslehre zu erzählen. Beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt erhält er im darauffolgenden Jahr für die Erzählung „Die Waage“ den Ernst-Willner- Preis. In Die Frequenzen (2008), wieder ein Familienroman („ein atemberaubendes, ein in die Magengrube fahrendes Buch“, Die Zeit) und noch verflochtener gestaltet als sein Debüt, verfestigen sich einige Grundstrukturen von Setz’ Schreiben: die mittelgroße Stadt Graz als düsteres Setting, synästhetische Sinneseindrücke, Dinganimismus, die Vorliebe für surreale Grotesken, explizite Gewalt- und Sexualdarstellungen und nicht zuletzt die autobiographische Subversion des Autors. Das diesjährige Seminarbuch Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes (2011) stellt insofern eine Zäsur im Werk des Österreichers da, als er vom Salzburger Residenz Verlag zum Berliner Suhrkamp Verlag wechselt. Der Erzählband zementiert nicht nur Setz’ Stellung als „jüngste Hoffnung der deutschen
Gegenwartsliteratur“ (Die Zeit), sondern wird auch mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Indigo (2012), sein dritter Roman, folgt abermals den Prinzipien eines vielschichtig verrätselten Erzählens. Die mysterythrillerhafte Handlung entspinnt sich um den (autofiktionalen) Mathematiklehrer Clemens J. Setz, der den merkwürdigen Vorfällen in einem Internat in der Steiermark nachgeht, in dem Kinder untergebracht sind, von denen eine auratische Strahlung – das Indigo-Syndrom – ausgeht, die bei anderen Menschen Übelkeit und Kopfschmerzen hervorruft. Das Buch liest sich als „Demonstration dessen, wie ununterscheidbar Fakten und Fiktionen im Internetzeitalter geworden sind“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), und ist dabei „so böse wie Nabokov, so virtuos wie David Foster Wallace“ (Welt am Sonntag). Wie auch Die Frequenzen wird Indigo für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2014 erscheint Die Vogelstraußtrompete, Setz’ erster Gedichtband. Darüber hinaus schreibt er Essayistisches über Anne-Frank-Fanfiction im Feuilleton. Sein letzter Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (2015) bringt mit der hochneurotischen Pflegerin Nathalie Reinegger, die den Stalker Alexander Dorm betreut, sicherlich die bis dato komplexeste und provokanteste Figur des Autors hervor – und ist zugleich sein stärkster „Anschlag auf die seelische Unversehrtheit des Lesers“ (Die Welt). Neben der Sprachgewalt des Texts überzeugt vor allem die gegenseitige Durchdringung medialer und sensueller Wahrnehmung: „Kaum einem Schriftsteller gelingen so fantastische Verschaltungen von Organischem und Mechanischem, Belebtem und Unbelebtem“ (Süddeutsche Zeitung). Der Roman wird mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. Noch im selben Jahr erscheint auf Anregung von Kathrin Passig Glücklich wie Blei im Getreide, eine illustrierte Sammlung nacherzählter Schreibversuche. Davon, dass Clemens J. Setz ohnehin ein großer Könner der Kurz- und Kürzestschreibweisen ist, kann man sich tagtäglich als Follower seines Twitter- oder Instagram-Accounts überzeugen.

Call for Papers

Das 25. Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur in Nozawa Onsen beginnt am Freitag, den 11. November. Bis Sonntag, den 13. November diskutieren dann die Seminarteilnehmer Clemens J. Setz’ Werk im Dialog mit dem Autor. Vorschläge für Referate werden ab sofort entgegengenommen. Zusätzlich zu Arbeiten, die sich mit einem Einzelwerk befassen bzw. einen bestimmten Teilaspekt vertiefen, und solchen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Seminarbuch (Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes) beschäftigen, sind auch Überblicksreferate willkommen, die grundsätzliche Fragestellungen aufwerfen. Vorträge sollten zwischen 20 und 25 Min. dauern, das Abstract maximal 150 Wörter lang sein.

Anmeldungen ab sofort und bis 31. Juli. Abgabetermin für das Abstract ist der 15. September.

Kontakt: Claus Telge (claus.telge@let.osaka-u.ac.jp), Bertlinde Vögel
(bvoegel@lang.osaka-u.ac.jp)

Bibliographie Clemens J. Setz (Auswahl)

  • Söhne und Planeten. St. Pölten: Residenz 2007.
  • Die Frequenzen. St. Pölten: Residenz 2009.
  • Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes. Berlin: Suhrkamp 2011.
  • Indigo. Berlin: Suhrkamp 2012.
  • Die Vogelstraußtrompete. Berlin: Suhrkamp 2014.
  • „Hey, ich bin Anne“. Die Zeit 32/ 2015.
  • Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Berlin: Suhrkamp 2015.
  • Glücklich wie Blei im Getreide. Nacherzählungen. Berlin: Suhrkamp 2015.

Follow Clemens J. Setz auf https://twitter.com/clemensetz und https://www.instagram.com/clemensetz/

Das Seminarbuch: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes

„In seiner bewusst artifiziellen, hochverspiegelten Prosa porträtiert sich der Autor als Exorzist einer aus den Fugen geratenen Phantasie, als moderner Schamane in Blaubarts letzter Kammer, der im fahlen Flimmern der Medialität die Schmutzarbeit des Zuendedenkens für uns erledigt. Sein Personal teilt sich in jene, die sich aus dem Dekorum der Humanität lustvoll herauswinden, um alle Hemmungen fallen zu lassen, und andere, die sich in die Einsamkeit des reinen Beobachters retten. In Erzählungen wie „Das Riesenrad“ und „Kleine braune Tiere“ skizziert er eine Menschheit im Wartezustand, ohne Leitbilder und Ideale, losgelöste Astronauten im Raumschiff Erde, auf der Abschussrampe, aber ohne Ziel. Der Preis würdigt ein düsteres, mit Überraschungen aufwartendes Prosalabor, in dem ein junger Autor sich traut, mit den Mitteln der Sprache Vabanque zu spielen.“

Aus der Begründung der Jury zur Vergabe des Preises der Leipziger Buchmesse 2011

Anmeldung zum 25. Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur: http://www.onsem.info/anmeldung/.

Clemens J. Setz
Foto: APA (Neubauer)
Freitag, 11. November 2016
18:30Abendessen
20:00Am Nullpunkt des Menschseins. Anmerkungen zum Werk von Clemens J. SetzClaus Telge
20:30Erste LesungClemens J. Setz
Samstag, 12. November 2016
09:15„Von außen betrachtet, (...) sah alles ganz anders aus“– Clemens J. Setz’ literarisches Debüt zwischen Moderne und PostmoderneWalter Vogl
09:45„Wie in eines matt geschliffenen dunklen Widerschein“: Setz als postmoderner NeoromantikerMichael Wetzel
10:15Pause
10:30Zweite LesungClemens J. Setz
11:00„Eisenspäne in die unsichtbaren Magnetlinien streuen“? Eine paratextuelle Annäherung an Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter KindesMiyuki Soejima
11:30Das Leben als Internet und Computerspiel. Anmerkungen zu Clemens J. Setz’ Erzählungen „Der Schläfer erwacht“ und „Kleine braune Tiere“Teppei Yamamoto
12:00Mittagspause
15:00Randexistenzen und Grenzgänger als ProtagonistenChristian Zemsauer
15:30Alle Spuren führen ins Leere – Über die Erzählweise des Romans IndigoShihoko Ora
16:00Pause
16:15WerkstattgesprächClemens J. Setz & Claus Telge
17:15Dritte LesungClemens J. Setz
18:30Abendessen
20:00„Ich bin so wenig Furcht einflößend.“ Der Erzähler Clemens J. Setz. (ORF- Feature)
20:30Präsentation: ASMR-Videos, Filme
Sonntag, 13. November 2016
09:30Verfahrensweisen der Appropriation Art in Die VogelstraußtrompeteJisung Kim
10:00Clemens J. Setz und die Zukunft der LiteraturAyano Inukai
10:30Bild und bildliche Rede in Die Stunde zwischen Frau und GitarreErich Meuthen
11:00Pause
11:15Vierte LesungClemens J. Setz
11:45AbschlussdiskussionClemens J. Setz

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